Mobilitätstypen: Wie Individualisierung die Mobilitätswende vorantreibt und welche Rolle Carsharing spielt. Mobilitätsexpertin Alexandra Millonig und Carsharing-Expertin Brigitte Courtehoux im Doppelinterview. Wien, am 02. Juli 2024 Schon lange ist Mobilität zentraler Bestandteil der Klimaziele. In der Theorie ist das Optimum klar: Güter sowie Menschen sollten möglichst wenige Kilometer hinter sich bringen – und wenn dann möglichst CO2-neutral. Dafür muss der Arbeitsplatz nahe am Wohnort sein, ebenso wie die Einkaufsmöglichkeiten und Urlaubsziele. So attraktiv dieses Ideal in der Theorie scheint, so realitätsfern ist es in der Praxis. Denn wir leben in einer vernetzten, schnelllebigen Welt, in der Reiseziele, Freundschaften, Hobbies sowie die Berufswahl nicht vom Kilometerradius bestimmt werden. Mobilitätsbedürfnisse und Nachhaltigkeitsbestrebungen sind sehr individuell: Um die Mobilitätswende zu schaffen braucht es daher differenzierte Ansätze für unterschiedliche Mobilitätstypen. „One-size-fits-all Ansätze haben längst ausgedient. Wir müssen die Diversität an Mobilitätsbedürfnissen anerkennen und eine Vielfalt an Lösungen bieten, die nahtlos zusammenspielen. Carsharing ist ein Teil dieser Lösung“, so Brigitte Courtehoux, Brand CEO vom Carsharing-Anbieter Free2move (früher als Share Now bekannt). Orientierung gibt die Typologie-Studie pro:NEWmotion, die 2022/2023 vom Projektkonsortium Herry Consult, INTEGRAL, AIT Austrian Institute of Technology und der TU Wien durchgeführt wurde. Basierend auf weitreichender Analyse und Umfragen wurden fünf Mobilitätstypen in Österreich inklusive Charakteristika und präferierten Mobilitätslösungen herausgearbeitet. Durch diese Typisierung können zielgruppenspezifische Mobilitätslösungen konzipiert werden, um so schlussendlich in der Breite für Veränderung zu sorgen. Pragmatisch-Interessierte: Herausforderung und Chance zugleich Sie sind… fahren mit… und das weil… - unter 40 Jahre alt - in oder im Umkreis von kleineren Städten - meist 4-Personen-Haushalte mit Kindern - vor allem Öffis - sind offen für alle Verkehrsmittel - Gesundheit - Spaß - Möglichkeit zum Lesen/Arbeiten Die größte Gruppe, mit 29 %, ist die der „Pragmatisch-Interessierten“: sie sind mit digitalen Medien aufgewachsen, wohnen in der Umgebung von oder direkt in kleinen bis mittelgroßen Städten und sind anpassungswillig. Alltagswege werden von diesem Typ, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln absolviert, aber auch Auto, Fahrrad und anderen Kleinfahrzeuge werden genutzt. „In den Köpfen vieler Menschen ist ein Leben am Land ohne Auto nicht vorstellbar. Teilweise ist das dem weniger dichten Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln geschuldet – dieses muss selbstverständlich weiter ausgebaut werden. Andererseits braucht es ein Umdenken: anstatt Angestellten einen Parkplatz anzubieten, können z.B. Belohnung für jene Mitarbeiter:innen angedacht werden, die mit dem Fahrrad kommen, zumindest eine Teilstrecke mit dem Zug absolvieren oder sich ein Auto teilen“, so Mobilitätsexpertin Alexandra Millonig vom Centre of Mobility Change (CMC).  „Aufgrund der instabilen Kundennachfrage im ländlichen Bereich bzw. am Stadtrand schaffen wir, auch wenn das isoliert betrachtet wirtschaftlich kaum tragbar ist, mit Langzeitmieten oder Vorbestellungen ein dezidiertes Angebot, um auch hier Mobilitätsbedürfnisse zu decken“, so Courtehoux. Effizienz-Orientierte: Der Preis ist heiß Sie sind… fahren mit… und das weil… - 30-45 Jahre alt - etwas höherer Frauenanteil - in der Großstadt - meist in 2-Personen-Haushalten - PKW - Öffis (wenn effizienter) - Verfügbarkeit - Schnelligkeit - Wetterunabhängigkeit Die zweitgrößte Gruppe ist jene der „Effizienz-Orientierten“ mit 24 %. Ihre Entscheidungen sind stark von Zeit und Kosten beeinflusst – Umweltthemen spielen kaum eine Rolle. Sie fahren viel mit dem Privat-PKW. „Hier können wir vor allem mit pünktlichen, schnellen, öffentlichen Anbindungen in dichtem Takt punkten. Eine Reduktion an oder eine Kostenerhöhung von Parkplätzen kann weiter dazu beitragen, dass die Nutzung von Privat-PKWs sinkt“, so Millonig. Courtehoux ergänzt: „Desto häufiger Carsharing-Autos genutzt werden, desto rentabler werden sie. In Zeiten, in denen Park- und Erhaltungsgebühren sowie Tankpreise steigen, steigt die finanzielle Attraktivität von Shared Mobility. Das müssen wir an diese Zielgruppe herantragen.“ Hoch-informierte Nachhaltigkeit: Das grüne Ideal Sie sind… fahren mit… und das weil… - um die 50 Jahre alt - in Wien oder Stadtrand - meist in 2-Personen-Haushalten - zu Fuß - Öffis - Fahrrad - PKW - Verlässlichkeit - Verfügbarkeit - Flexibilität - Umweltverträglichkeit Mit 22 % ist die Gruppe „Hoch-informierte Nachhaltigkeit“ nur minimal kleiner, die Unterschiede sind jedoch markant: Denn dieser Typ ist sehr verantwortungsbewusst und interessiert an nachhaltigen Mobilitätslösungen. Er wohnt vor allem in Wien, hat oft ein Klimaticket, und ist viel zu Fuß und mit dem Fahrrad unterwegs. Er nutzt ab und an auch ein Auto – präferiert hier jedoch E- und Carsharing-Lösungen. „Dieser Typ ist hinsichtlich Nachhaltigkeit quasi der Vorreiter. Praktische, nachhaltige Lösungen werden gerne angenommen – jedoch auch kritisch hinterfragt. Das muss bei der Kommunikation von Lösungen berücksichtigt werden“, so Millonig. Courtehoux fügt hinzu: „Die gemeinsame Nutzung von Mobilitätslösungen zahlt in ein verstärktes kollektives Verantwortungsgefühl ein. Nachhaltigkeitsbewusste verstehen, dass sie mit Carsharing-Lösungen nicht nur ihre Lebensqualität verbessern, sondern auch einen Beitrag zu einer grüneren Zukunft leisten.“ Niederer Informationsbedarf: Ungenutztes Potential Sie sind… fahren mit… und das weil… - über 50 Jahre alt - im ländlichen Raum - meist in 2-Personen-Haushalten - PKW - zu Fuß - selten Öffis oder Fahrrad - Flexibilität - Verlässlichkeit - Verfügbarkeit - Wetterunabhängigkeit - Barrierefreiheit An vierter Stelle reiht sich mit 19 % der Typ „Niederer Informationsbedarf“. Eine geringe Veränderungsbereitschaft und fixe Routinen prägen diesen Typ. Er wohnt eher am Land, ist kostenorientiert und hat das höchste Durchschnittsalter. Veränderung passiert am ehesten aufgrund von Kostenargumenten.  Millonig pocht auf Optimismus: „Oft wird hier vorschnell geurteilt, dass die Zielgruppe ‚eh nichts ändert‘. Auch wenn dieser Frust nachvollziehbar ist, ist er denke ich unproduktiv. Wir müssen uns immer wieder fragen, was wir tun können, um die Nutzung nachhaltiger Lösungen zu steigern – gerade dann, wenn Nachhaltigkeit kein Faktor in der Entscheidungsfindung ist. Genau dabei helfen uns diese Typisierungen. Im Alter spielen beispielsweise Barrierefreiheit und das Aufrechterhalten von Unabhängigkeit eine wichtige Rolle – Lösungen, die dies bieten, können hier punkten.“ „Wenn wir unsere Carsharing-Lösungen entwickeln, fragen wir uns in erster Linie, wie wir unseren Kund:innen das Leben erleichtern können. Für eine gelungene Mobilitätswende ist das unerlässlich – genauso braucht es jedoch einen attraktiven regulatorischen Rahmen der durch geeignete Privilegien, wie zum Beispiel, die Befreiung von Parkgebühren, einen nachhaltigen Betrieb sicherstellt“, so Courtehoux zu den Herausforderungen. Spontan – On the go: Flexibilität als Leitsatz Sie sind… fahren mit… und das weil… - eher jünger - urban - in 1- bis 2-Personen-Haushalten - Öffis - Auto - zu Fuß - Verfügbarkeit - Schnelligkeit - Wetterunabhängigkeit - Sauberkeit Die mit Abstand kleinste Gruppe befindet sich im einstelligen Bereich mit 7 % und heißt „Spontan – On the go“. Sie ist jung, technologieaffin, nutzt gerne Echtzeitinformationen über Apps und schätzt Effizienz und Flexibilität – daher wird oft auf Sharing-Lösungen, egal ob Scooter, Bike oder Auto, gesetzt. Sie ist aufgrund ihrer Agilität Vorreiter im Trend zur Seamless Mobility. „Bei Free2move sind sie oft die ersten, die unsere Carsharing-Lösung in Anspruch nehmen, wenn wir in eine neue Stadt kommen. Sie treiben uns an, unsere Lösungen immer weiterzuentwickeln und am Zahn der Zeit zu bleiben,“ verrät Courtehoux aus der Praxis. Ausblick „Durch das Aufzeigen von Mobilitätsbedürfnissen und der Entwicklung nachhaltiger Mobilitätskonzepte möchten wir die Mobilitätswende vorantreiben. Wir wissen, dass ein Wandel möglich ist: Das Know-how und die Technologie sind vorhanden – wir müssen sie nur nutzen", blickt Millonig in die Zukunft. „Wir sind bestrebt Carsharing-Lösungen für alle Mobilitätstypen anzubieten: Sei es die spontane go-to Lösung, die Langzeitmiete für Vorausplaner, Autos am Flughafen für Reisende oder aber Free2move for Business für Unternehmen, die agil bleiben und keine fixe Flotte möchten. Klar ist, es braucht ein Zusammenspiel aus einer Vielzahl an nachhaltigen Mobilitätsangeboten, um in der Breite etwas bewegen zu können. Wir sind stolz, ein Teil davon zu sein und so grünere, lebenswertere Städte zu schaffen, indem wir Staus reduzieren und die Mobilitätsnetze in allen unseren Märkten verbessern“, schließt Courtehoux ab. __________ Über Alexandra Millonig: Dipl.-Ing. Dr. Alexandra Millonig ist Expertin für Mobilitätsverhalten und Zielgruppensegmentierung sowie Klimaschutz. Sie ist Initiatorin des Centre of Mobility Change (CMC), Zentrum für Mobilitätsverhaltensänderung, eines der Urbanen Mobilitätslabore in Österreich, das im Rahmen der Forschungsschiene „Mobilität der Zukunft“ vom BMK gefördert wird. Alexandra Millonig ist im Team Digital Resilient Cities (DRC) des AIT Austrian Institute of Technology tätig, wo sie für Forschungsprojekte zu sektorübergreifenden Themen im Bereich (räumliches) Verhalten und nachhaltige Verhaltensänderung verantwortlich ist. Darüber hinaus hält sie Vorträge über nachhaltige Stadtentwicklung und Verhaltensänderung an der Technischen Universität Wien, an der sie selbst einen Master-Abschluss in Stadt- und Regionalplanung und ein Doktorat über Fußgängertypologien absolviert hat.